Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen – Aristoteles

Es kann passieren, dass es mich überkommt und dann spreche ich offen über meine Diagnose. Ich bin es manchmal einfach leid, damit hinterm Berg zu halten, was ich bin und wer ich bin. Nach ein paar ausgetauschten Sätzen bereue ich dann aber öfters, dass ich mich nicht zurückhalten konnte. Wer sich noch nie mit Asperger oder allgemein mit Autismus auseinandergesetzt hat, denkt häufig erst einmal an Rain Man. «Aber du bist doch gar nicht so» ist dann der Tenor oder «bei dir hätte ich jetzt aber nie was gemerkt». Ja, ich bin kein Savant wie Rain Man. Und nein, ein flüchtiger Blick reicht mir nicht, um Zahnstocher am Boden zu zählen.

Dafür bin ich mit einer Schauspielgabe gebenedeit. Damit will ich nicht den Eindruck erwecken, ich wäre der geborene Hamlet für die grosse Bühne. Ich kann mich einfach gut verstellen. Ich habe schliesslich schon mein ganzes Leben Erfahrung damit. Und obgleich ich gerne eine Inselbegabung wie Savants hätte, ich kann leider nicht damit dienen. Es gibt nicht dieses eine grosse Thema, das mich vor allen anderen Dingen interessiert. Mich interessiert einfach zu viel. Lese ich ein Buch, habe ich mir dabei ein Dutzend weitere Bücher notiert, die ich auch lesen möchte.

Ich kann keinen Film schauen, ohne nicht mindestens fünf-, sechsmal die Pause-Taste gedrückt zu haben, um mir nähere Infos zu den Schauspielern, der Filmmusik oder sonst etwas beschafft zu haben.

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Ich schliesse wahnsinnig gerne Wissenslücken, kenne dabei aber fast keine Grenzen und kann mich mühelos in beliebig vielen Themengebieten verlieren. Derweil stellt Goethes Margarete auch mir die berühmte Gretchenfrage: Verzettelst du dich denn nicht bei all den Themen, die dich interessieren? Und noch während sich hier Fachwissen und Wissensdurst zuwiderlaufen, wechsle ich schon zum nächsten Interessengebiet.

Gesetzt den Fall, ich muss mich wirklich – und damit meine ich unausweichlich – eingehend mit einem bestimmten Thema beschäftigen, bleibt mir nichts anderes, als mich richtiggehend zu zwingen, keine Ablenkung durch Recherche zu einem weiteren Thema zuzulassen. Das ist beileibe nicht einfach und erfordert höchste Konzentration.

Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. Ich auch. Denn ich bin ja auch nur ein Mensch.

(un-)angenehm anders

Ich funktioniere anders. Das habe ich schon bald einmal gemerkt. Schon als Teenager habe ich mir überlegt, dass es sinnvoll wäre, mich psychologisch abklären zu lassen. Es war nichts bestimmtes in meinem Hinterkopf, kein Verdacht, was mit mir anders ist. Ich merkte einfach, mein Gehirn arbeitet (un)angenehm anders.

Schon immer mochte ich mir bekannte Strukturen, Ordnungen, Muster. Hingegen war mir alles mir Unbekannte oder mir noch nicht Bekannte suspekt. Bevor ich mich einigermassen ruhig auf Neuland wagen konnte, musste ich erst unzählige Informationen einholen. Gab es im Vorfeld keine abrufbaren Informationen, machte sich ein nervöses, Bauchschmerzen auslösendes Gefühl breit.

Strukturen, Ordnungen und Muster haben mich immer fasziniert und oft schon fast zwanghaft in Schemata gedrängt. Als ich einmal als 13jähriger in meinem Aushilfsjob von meiner Chefin gerügt wurde, ich würde falsche Arbeitszeiten einschreiben und sie so um Geld – wenn auch wenig – betrügen, fiel ich aus allen Wolken. Ich war so darauf fixiert, regelmässig, immer dieselben Zeiten einschreiben zu wollen – notabene ohne immer zu den angegebenen Zeiten anwesend zu sein -, dass ich gar nicht bemerkte, dass ich so mehr Arbeitszeit aufschreiben und mehr Lohn verlangen würde als effektiv verdient. Auf Betrug wäre ich nie gekommen und das war ganz bestimmt auch nicht meine Absicht.

Immer wieder bin ich in unangenehme Situationen gestolpert. Meistens war ich dann so in Gedanken versunken, dass ich komplett ausgeschaltet habe, was um mich herum passiert. Und das auch nur, weil in solchen Situationen zu viel auf mich einprasselte. Lärm, Hitze, das Blenden der Sonne, Gerüche, das alles wurde mir oft, nebst meinen Gedankengängen, einfach zu viel. Dazu kommt noch, dass ich mir in Gedanken öfters selber ins Wort falle und praktisch permanent Musik in meinem Kopf spielt.

Im Frühling 2015 hat meine Schwiegermutter eine Sendung in einem Lokalsender gesehen und berichtete meiner Frau, dass eine Ehefrau in der Talk-Sendung ihren Mann so beschrieb, wie auch ich immer wieder mal auf andere Menschen wirke. Meine Frau schaute sich die Sendung ebenfalls an und leitete mir den Link zur Sendung weiter. Am nächsten Morgen, noch vor der Arbeit, sah auch ich mir den Talk an. Er dauerte nur ungefähr 20 Minuten. Mich traf beinahe der Schlag: Die Frau beschrieb Empfindungen und Auffassungen von ihrem Mann, die ich ganz genau kannte. Nur hatte ich bisher angenommen, dass ich der einzige bin, der so denkt und so empfindet. Es traf mich vollkommen unvorbereitet: Es gibt noch andere da draussen, die auch so sind wie ich. Mir liefen während der Autofahrt ins Büro die Tränen übers Gesicht (und das passiert mir so gut wie nie). Ich konnte meinen Gefühlsausbruch zwar nicht einordnen, aber irgendwie fühlte es sich gut an. Und so lernte ich es kennen: das Asperger-Syndrom.

Unzählige Webseiten, Filme, verschiedenste Bücher begann ich nun zu verschlingen. Ich konnte nicht genug kriegen von Menschen, die erzählten, wie auch ich die Welt wahrnehme, Empfindungen haben, die ich teilweise 1:1 auch so habe. Natürlich hatte ich bald verschiedene Tests auf einschlägigen Webseiten gemacht. Immer war das Resultat dasselbe: Ich bin Asperger-Autist. Es versteht sich von selbst, dass ich mich nicht allein auf solche Webseiten-Gratis-Tests verlassen konnte. Ich wollte es genau wissen. Also erkundigte ich mich, wo in der Nähe seriöse Abklärung möglich ist. Ich bekam einen ersten Termin in einer psychiatrisch-psychologischen Praxis und wurde dann für weitere Abklärungstermine einer Psychologin zugeteilt. Nach ein paar Monaten mit regelmässigen Terminen bei der Psychologin, erhielt ich die glasklare Diagnose: Asperger-Autismus.

Nun hat das Kind also einen Namen. Seither habe ich besser zu verstehen gelernt, wie ich funktioniere, kann besser reflektieren. Dies soll der Startschuss eines Blogs sein, in dem ich meine Erlebnisse und meine Eindrücke mitteile und erkläre. Dieser Blog dient dem besseren Verständnis von uns Asperger-Autisten. Ziel ist es aber auch, unbewusst Betroffenen Mut zu machen, sich zu informieren. Wir sind nicht abnormal, für uns ist die Welt nur (un-)angenehm anders*!

* Kleine Randbemerkung: Im nächsten Eintrag erkläre ich, wie ich auf diesen Blogtitel gekommen bin.